Wir sollten alle Talente fördern – weil es gut für alle ist!

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Esra, eine junge Frau aus dem Essener Norden, geht als einzige von sieben Geschwistern nach der Grundschule auf das Gymnasium ihres Stadtteils. Ab der 8. Klasse schreibt sie Gedichte auf Englisch. Sie ist ehrenamtlich stark an der Schule engagiert, bekommt in der 10. Klasse ein Schülerstipendium und macht das Abitur mit einer glatten Zwei. Sie spricht vier Sprachen fließend und nimmt ein Lehramtsstudium auf, die ersten Prüfungen hat sie erfolgreich absolviert.

Daniel geht auf eine Realschule in Castrop-Rauxel und möchte Abitur machen. Er meldet sich an einem Berufskolleg an und erwirbt die Fachhochschulzugangsberechtigung. Daniel schreibt sich an einer Fachhochschule ein, erhält ein Stipendium der deutschen Begabtenförderung und macht seinen Bachelor mit einer Eins in Regelstudienzeit. Er studiert den Master an einer benachbarten Universität, wird dort angestellt und bekommt ein Angebot für ein beschleunigtes Promotionsstudium, das er annimmt.

Auch Marika macht an einer Gesamtschule im Ruhrgebiet ihr Abitur. Ihre Schulnoten sind durchschnittlich, in Deutsch und Mathematik hat sie Schwachstellen. Aber Marika hat etwas, das sich kaum in Schulnoten abbilden lässt, sie verfügt über ein ausgeprägtes Organisationstalent. Schon vor dem Wechsel zur Gesamtschule, lud Marika eine Ministerin an ihre damalige Realschule ein, um mit ihr über Politik zu diskutieren.

Als die Ministerin zusagte, organisierte sie eine zweistündige Diskussion mit ihrer Jahrgangsstufe und Teilen des Lehrerkollegiums. Ähnliche Veranstaltungen folgten an ihrer neuen Schule. Marika ist politisch engagiert und Sprecherin der örtlichen Jugendorganisation. Im letzten Jahr bewarb sie sich für einen Schüleraustausch mit den USA und wurde angenommen. Im August geht sie für ein Jahr in die Staaten, wird in einer Gastfamilie leben und die High School besuchen.

Wahre statistische Ausnahmen durch Talentförderung
Was haben die Bildungswege von Esra, Daniel und Marika gemeinsam? Rein statistisch betrachtet sind sie eine Ausnahme. Etwas überspitzt formuliert könnte man sagen, eigentlich hätten diese Erfolge in Schule, Berufsausbildung und Studium gar nicht stattfinden dürfen. Denn die Elternhäuser dieser Jugendlichen ähneln sich, sofern es überhaupt noch ein Elternhaus gibt.

Sie vereinen alle Risiken, wie z.B. niedriges Einkommen, für eine Teilhabe an erfolgreichen akademischen Bildungswegen auf sich. In keinem Elternhaus gibt es eine akademische Tradition, auf die Esra, Daniel und Marika hätten zugreifen können, als es um die Frage ging: Was mache ich eigentlich nach der Schule?

Die vielfältigen Optionen unseres Bildungssystems, mit der hohen Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Schultypen – zwischen Berufsausbildung, Studium und Arbeitsmarkt, zwischen Fachhochschulen und Universitäten – waren und sind ihren Elternhäusern nahezu unbekannt.

Was ist also passiert, dass diese jungen Leute ihren Weg gemacht haben? Alle drei haben sehr hart gearbeitet, um dahin zu kommen, wo sie heute sind. Sie haben in jungen Jahren Schicksalsschläge verarbeitet, mussten Umwege gehen und früh substanzielle Entscheidungen für ihre Bildungswege treffen, die in ihrem sozialen Umfeld kein Vorbild hatten und teils sogar auf Ablehnung stießen.

Die jugendlichen haben sich trotz schwieriger Rahmenbedingungen ehrenamtlich engagiert, haben Leistungen in der Familie erbracht, Angehörige gepflegt und vieles mehr. Das alles sind Attribute von Persönlichkeiten, die unsere Gesellschaft in Wirtschaft, Wissenschaft und öffentlichem Dienst gleichermaßen braucht.

Und dennoch wäre keiner von ihnen, ohne Talentförderung an den entscheidenden Stellen, da wo sie heute sind. Esra und Daniel hätten wahrscheinlich kein Stipendium erhalten, weil sie noch nie von einem Stipendium gehört hatten. Beide wären von ihrer Schule bzw. Hochschule nicht vorgeschlagen worden und vermutlich wären sie auch nicht zum Auswahlgespräch gegangen, denn sie haben sich selbst nie als Talent gesehen.

Im Gegenteil haben sie, wie viele Jugendliche aus weniger privilegierten Verhältnissen, an sich gezweifelt und sich wenig zugetraut. Daniel wäre auch sicher nicht in einem Promotionsprogramm an einer Universität gelandet, um dort seine Forschungstalente auszuleben, hätte er als FH-Absolvent nicht die Begabtenförderung im Gepäck gehabt.

Marika würde keinen einjährigen Auslandsaufenthalt in den USA angehen. Sie wusste schlicht nicht, dass es solche Austauschprogramme gibt, die für die ausgewählten Austauschschüler kostenfrei sind. Und sie hätte sich ohne die Ermutigung und Unterstützung nicht auf ein mehrstufiges Auswahlverfahren eingelassen.

Vorgezeichnete Biografien gilt es zu durchbrechen
Warum betrachten wir diese drei Lebenswege so ausführlich? Weil Esra, Daniel und Marika auch Jens, Ester, Halil, Merve, Tuna, Zaynab, Jennifer oder Thomas heißen könnten und für Hunderte von Leistungsträgern stehen, die wir in den vergangenen Jahren über das Talentscouting an mittlerweile 17 Fachhochschulen und Universitäten in Nordrhein-Westfalen kennengelernt haben.

Es gibt viele dieser Talente in unserem Land, und wir wissen inzwischen aus der Bildungsforschung recht genau, warum und unter welchen Bedingungen Kinder und Jugendliche diese Talente nicht entfalten können.

Und wir wissen auch, dass die massiven Unterschiede beim Zugang zu Hochschulen seit Jahrzehnten eine Formel haben: Hast Du Eltern, die Geld haben und selbst Akademiker sind, sind die Türen der Hochschulen eine beinah natürliche Durchgangsstation der Ausbildung des Nachwuchses. Hast Du Eltern, die wenig verdienen oder keine Arbeit haben und auch keine Akademiker sind, bleiben die Aufnahme eines Studiums und ein erfolgreicher Studienabschluss eher die Ausnahme.

Irritieren muss, dass wir diese Befunde bislang kaum offensiv diskutiert haben. Was können wir im Regelsystem Schule – Berufsausbildung – Studium – Arbeitsmarkt tun, damit die Jugend unseres Landes ihren Talenten und Leistungen entsprechend vorankommt und dort landet, wo wir sie als Gesellschaft einer Exportweltmeisternation brauchen? Wir sind der Ansicht, dass eine intensivere Debatte über die Gelingensbedingungen der Förderung von Leistungsträgern aus weniger privilegierten Verhältnissen dringend erforderlich ist.

Ein gutes und gerechtes Bildungssystem ist ein sozial- und wirtschaftspolitischer Gewinn
Vorab: Wir sind nicht der Meinung, dass jeder junge Mensch zwingend studieren sollte. Gerade in der Mittel- und Oberschicht gibt es viele junge Leute, die eigentlich gerne eine Berufsausbildung machen würden, dies aber nicht dürfen, weil es nicht dem Selbstverständnis ihres Elternhauses entspricht.

Aber Talente von einem Studium abzuraten, wenn dies ihren Fähigkeiten und Neigungen entspricht – wer will das ernsthaft vertreten? Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Bei uns im Ruhrgebiet gibt es beispielsweise schlicht nicht genug Ausbildungsstellen, es gibt mithin gar keine Alternative zu einer guten akademischen Ausbildung. Hier haben wir ein gewaltiges Verteilungsproblem, das mit einer Debatte um einen Akademisierungswahn kaum sinnvoll angegangen wird.

Geht man auf die inhaltliche Ebene ein, kommt ein auf Noten eingeschränkter „Blick” des Bildungssystems auf Leistungen hinzu, der mit den tatsächlich erbrachten Leistungen von jungen Leuten in ihrem konkreten Lebenskontext nichts zu tun hat. Faktisch werden hier viel zu viele Talente übersehen. Auf diese bislang unentdeckten Talente sind wir aber heute schon angewiesen und werden es zukünftig erst recht sein.

Wir sind der Ansicht, dass offensive Angänge zur Förderung von Talenten aus weniger privilegierten Verhältnissen gerade dort sinnvoll erscheinen, wo diese Verhältnisse geballt auftreten. Hier geht es um eine bildungspolitische, aber eben auch um eine sozialpolitische und ganz dominant auch um eine wirtschaftspolitische Dimension. Denn die Innovatoren des Jahres 2050 sind in weiten Teilen schon geboren.

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