Dreizehn Jahre war Knut Reinhard Fußballprofi. Seine Welt in Zahlen:
Dreihundert Bundesliga-Spiele.
Fünfzig Partien im Europa-Pokal.
Sieben Länderspiele.
Vize-Weltmeister mit der U20.
UEFA-Pokalsieger, zweimal Deutscher Meister, Champions-League-Sieger.
Tausende von Stunden auf dem Rasen.
Hunderte von Kilometern in den Beinen.
Zwei kaputte Knie.
Nachdem er mit 32 Jahren seine Profikarriere aus gesundheitlichen Gründen beenden musste, entschied er sich für den Beruf als Grundschullehrer. Es war ihm wichtig, einer Berufung zu folgen, die ihn auch nach seiner aktiven Zeit glücklich macht und ausfüllt. Dass man als Sportler in der Lage ist, alles andere auszublenden und sich auf sein Ziel zu fokussieren, kam ihm im Studium häufig zugute.
Im Rahmen seiner Lehrerausbildung an der TU Dortmund absolvierte er mehrere Praktika an verschiedenen Schulen. Eine davon war an der GS Kleine Kielstraße im Dortmunder Norden, einem sozialen Brennpunkt mit großem Konfliktpotenzial. Die Art und Weise, wie das Kollegium hier mit gesellschaftlichen Problemen und nachhaltigen Lösungen umgeht, hat ihm imponiert. Seit 2009 unterrichtet er an dieser Grundschule. Die 400 Schüler kommen aus 27 Nationen, 83% von ihnen haben einen Migrationshintergrund, einige leiden unter zerrütteten Familienverhältnissen.
Im Umgang mit Kindern aus unterschiedlichsten Milieus überträgt er seine Erfahrungen aus dem Sport auf die pädagogische Arbeit, stellt klare Regeln für Leistung, Aufmerksamkeit und Respekt auf, rückt die Klasse als Team in den Mittelpunkt und vermittelt den Kindern das Gefühl, eine wichtige Rolle in der Gemeinschaft einzunehmen.
„In einer Mannschaft sind alle Positionen zu besetzen und gleichermaßen wichtig, nicht nur die des Spitzenstürmers.” Deshalb hat es ihm selbst nie etwas ausgemacht, nicht der Star einer Mannschaft zu sein oder die attraktivste Position zu besetzen: „Da, wo ich spielte, im Mittelfeld, war ich gut. Ich bekam Möglichkeiten und ich nutzte sie. Als Linksfuß war ich zudem eine Seltenheit.”
Gegenseitiger Respekt wird in „seiner” Schule beispielsweise durch den Klassenrat, die Streitschlichtung oder das gemeinsame Entwickeln der Klassenregeln im Unterricht (weiter)entwickelt. „All dies hilft, um auch im späteren Leben mit Konflikten umzugehen.” Viele seiner Schüler schaffen sogar den Sprung auf eine weiterführende Schule.
Intelligenz ist für ihn keine Voraussetzung für eine abgeschlossene Schullaufbahn. „Auch mit weniger Werkzeug im Gepäck kann man etwas erreichen, wenn man bereit ist, um jeden Zentimeter zu kämpfen.” Natürlich sei es schwer, Kindern, deren Eltern keinen Ehrgeiz darin zeigen, etwas aus ihrem Leben zu machen, diese Gedanken näherzubringen. „Da gibt es Familien, die sind in der zweiten oder dritten Generation Hartz-IV-Empfänger, seitdem sie die Hauptschule verlassen haben. Die unter einem Familienausflug verstehen, am Monatsersten das Konto zu plündern und mit dem Taxi zur Pommesbude zu fahren, eine Portion zu verdrücken und dann mit dem Taxi wieder heimzufahren.”
In seiner Autobiografie „Wenn Fußball Schule macht” fragt er: „Wie kann man diesen Kindern, die vom ersten Moment an auf der Verliererseite stehen, klarmachen, dass auch sie ein Recht auf Bildung haben – und in meinem Unterricht die Chance, dieses Recht für sich zu beanspruchen? Dass sie nur zugreifen müssen, mitmachen, mitdenken, mitarbeiten, um auf die Seite der Gewinner zu wechseln?”
Kinder müssen erfahren, dass sie etwas erreichen, wenn sie sich anstrengen. Haben sie einen Migrationshintergrund oder kommen sie aus bildungsfernen Familien, sind sie gesellschaftlich benachteiligt. In seinem Buch möchte Knut Reinhard auf die Situation dieser Kinder verweisen. Sie werden von Erwachsenen (auch von LehrerInnen) oft nicht ernst genommen und übergangen.
Im Zentrum muss die Entwicklung von Kompetenzen stehen – denn sie beinhaltet die Anwendbarkeit von Wissen. Über den an seiner Schule praktizierten und von ihm im Buch beschriebenen Dreischritt „Beziehung – Erziehung – Unterricht” soll erreicht werden, dass Kinder mit Verantwortung umgehen lernen und durch Vertrauen gefördert werden. Durch handlungsorientierten Unterricht, Kompetenzentwicklung statt Wissensvermittlung, Begeisterung über die eigene Lern- und Handlungsfähigkeit, Verstehen und Begreifen werden junge Menschen darin unterstützt, Dinge selbst anzupacken und ihre Urteilsfähigkeit zu schärfen, eigene Projekte und Ziele zu leben und soziale Anerkennung zu erhalten.
Das Online-Lernportal Scoyo hat Empfehlungen erarbeitet, wie Kinder ohne Stress und Druck – und dafür mit Spaß und Erfolg – zum Lernen motiviert werden können. Diese Tipps zitiert er auch in seinem Buch:
1. EIN GUTES LERNKLIMA SCHAFFEN
2. DIE RICHTIGEN ANREIZE SCHAFFEN
3. SCHULE NICHT ZUM HAUPTTHEMA IN DER FAMILIE
MACHEN
4. EINMAL, ZWEIMAL DURCHATMEN, MINDESTENS!
5. SELBSTBESTIMMTHEIT FÖRDERN
6. ANREGUNGEN ZUM LERNEN GEBEN
7. SCHULINHALTE BEILÄUFIG IN DEN ALLTAG EINBINDEN
8. DU SCHAFFST DAS! RÜCKEN STÄRKEN
9. RICHTIG LOBEN
10. LERNEN MIT PLAN.
Kinder sind für ihn wie trockene Schwämme, die begierig alles Wissen aufsaugen wollen, das ihnen begegnet. Demotivierte und lernfaule Erstklässler gibt es für ihn nicht – das „lernen” sie erst in der Schule. Aufgabe eines guten Pädagogen ist es deshalb, die Lust am Lernen so lange und so intensiv wie möglich zu fördern. In seiner Schule werden die Kinder deshalb auch raus in die Natur und in die Stadt geschickt – und aufgefordert, „Dinge zu hinterfragen und Behauptungen anzuzweifeln.” Das war in seiner Schulzeit nicht erwünscht, denn es ging hauptsächlich darum, Wissen wiedergeben zu können, wenn Tests, Arbeit oder Prüfungen anstanden.
Es wurde auf ein Lernen gesetzt, das auf Verinnerlichung des Stoffs verzichtet – es wurde die Stoffdurchnahme ohne aneignendes Üben eingeübt. Aber etwas einmal auswendig lernen heißt noch lange nicht, es auch verstanden zu haben. Wissen kann nicht eingetrichtert, sondern nur selbst aufgebaut werden. Wenn nicht klar ist, wozu es gebraucht wird, kann es nicht emotional besetzt und verinnerlicht werden.
Maria Montessori bezeichnete das Kind als “Baumeister seines Selbst” – es soll nicht belehrt, sondern darin unterstützt werden, sich selbst etwas beizubringen. Deshalb ist es wichtig, seine intrinsische Motivation nicht zu zerstören, sondern sie zu pflegen und zu fördern. Knut Reinhard gibt seinem Unterrichtsstoff deshalb eine Bedeutung, die kein Kind kaltlässt.
Als Schüler war er selbst eher durchschnittlich, weil er nur Fußball im Kopf hatte. Er war aufmüpfig und testete gern seine Grenzen aus. Seine Energie konnte er nur schwer kontrollieren. Der Unterricht in seiner Grundschulzeit war frontal. Im Nachgang bezeichnet er sich als „anstrengenden Schüler mit großem Potenzial”. Also wurde er zum Klassenclown mit „mittelmäßigen Zensuren und einer verdammt großen Klappe”. Schließlich wurde er aufs Gymnasium geschickt – allerdings nur, weil das seine Eltern so gewollt haben. Eigentlich wäre er eher „ein Fall für die Realschule” gewesen.
Auf dem Gymnasium war er denn auch eher unterdurchschnittlich, weil für ihn nur der Fußball zählte. Er rauchte und trank nicht, weil seine Gesundheit sein „Kapital” war. Dann legte er gefühlt den Turbo ein: „Kinder gezeugt, ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt” – um mit Anfang dreißig noch einmal zur Schulbank zurückzukehren und das Lernen neu zu lernen.
Zwar hat sich seither die Zahl seiner Fans deutlich verringert (von 50.000 im Westfalenstadion auf 25 in seiner Grundschulklasse), doch das, was er heute erreicht, ist ihm mehr wert als seine sportlichen Erfolge: „Bei dem Gedanken, ein ‚Problemkind’ so fit und stark gemacht zu haben, dass es im wirklichen Leben bestehen kann, ist dann aber doch bedeutender…”
Sein Plädoyer für eine bessere und zukunftsbezogene Bildung zeigt nicht nur, wie Fußball Schule machen kann, sondern dass die Schule der Zukunft die ganze Lernbiografie berücksichtigen muss.